Wie verteidige ich mich am besten, wenn niemand anderes auf der Welt für mich einsteht? Wenn Antiziganismus, Zwangssterilisation und Selbsthass mein Volk fast ausgerottet haben und das große Vergessen droht? Genau, ich gründe eine Armee mit stolzen KämpferInnen und erschaffe einen Ort, an dem es Platz gibt für jeden Menschen. Genau dies hat die israelische Regisseurin Yael Ronen, stellvertretend im Berliner Gorki Theater getan.
Schon der Vorhang zur Theatervorstellung Roma Armee verspricht einen bunten Abend. Gypsyland Europa steht da in großen Lettern, eingerahmt von Zeichnungen und Schriftzügen, die an eine Seite aus einem Comic erinnern. Als die Musik einsetzt und der Abend beginnt, tritt der schwedische Schauspieler Lindy Larsson mit großen Schritten, auf schwindelerregenden Absätzen, noch dazu Akkordeon spielend auf die Bühne, und singt mit dunkler Stimme einen Zarah Leander Song: „Von der Puszta will ich träumen, bei Zigeuner-Musik”. Dann marschieren nach und nach alle anderen SchauspielerInnen vor das Publikum, dem eine schillernde Laufstegshow geboten wird. Die AkteurInnen tragen Lack und Leder, Satin und Netzstrumpfhosen, sexy und aufreizend in der Pose. Lindy Larsson fasst die wichtigsten Eckdaten seiner MitspielerInnen zu kurzen Geschichten zusammen, präsentiert ihre Vorlieben, ihren Familienstand, sexuelle Orientierung und politische Zugehörigkeit, ergänzt von Kommentaren der Spielenden. Ein Potpourri der Biografien, geeint durch die ethnische Zugehörigkeit, Roma und Romnija, bis auf zwei. Aber das tut dem Zusammengehörigkeitsgefühl keinen Abbruch, denn was sie alle gemeinsam haben, ist die Erfahrung der Ausgrenzung. Es wird getanzt, gefeixt und dem Publikum die Zunge anrüchig entgegengestreckt. Die Bühne zeigt sich als eine queere, grenzenlose Welt, in der alles möglich ist. Je verrückter desto besser, je provozierender, desto gewünschter. Und hier beginnt ein weiteres selbst verordnetes Abgrenzen zur Norm. Wenn ich schon anders bin, und dies ein Leben lang von außen suggeriert bekomme, dann auch bitte schön über jedes Maß.
Das neue Stück der israelischen Regisseurin Yael Ronen, Roma Armee, ist wild und exstatisch. Die Bühne gleicht in vielen Momenten einer Zirkusmanege, in der alle Mitwirkenden ihre persönlichen Erfahrungen, Traumata und Kunststücke des Lebens zum Besten geben. Schambekenntnisse eingeschlossen. Schauspielerei und Realität verschwimmen – eine Spezialität der Regisseurin. Zuweilen erhebt das Spiel den erhobenen Zeigefinger, ermahnt und belehrt, aber das sei an dieser Stelle verziehen. Denn was wie ein großer Spaß anmutet, spricht ein ernstes Kapitel der europäischen Geschichte an – und das war zu erwarten – denn schließlich sitzt man in einer Aufführung von Yael Ronen. Auch diesmal geht es – wie in vielen ihrer Stücke – um die Demütigung eines Volkes, um Rassismus und Verfolgung. Um dem etwas entgegenzusetzen, stellt die Theatermacherin – motiviert von den Schwestern Simonida und Sandra Selimović – eine Roma Armee zusammen. Diese Armee ist wütend, sie fährt mit Panzern (von den Roma KünstlerInnen Delaine und Damian Le Bas auf die Bühnenleinwand projiziert) gegen das Vergessen auf. Simonida Selimović erzählt in einer Vision, die sie hatte, dass „ein Mensch ohne Geschichte nicht existiert.” Sie will sich erinnern, ihre Geschichte und die ihres Volkes bewahren. Nur so kann sie selbst sein. Und dann singt Riah May Knight, jetzt sind wir fast am Ende des zweistündigen Spektakels angelangt, mit ihrer Gänsehautstimme „come closer, lasst uns für den guten Weg kämpfen” und man fühlt sich direkt angesprochen und ist kurzzeitig verführt sich einzureihen in die Roma Armee. Aber das wäre dann doch ein bisschen zu viel Pathos an diesem Abend. Stattdessen gibt es vom Publikum Standing Ovations. Das Gypsyland Europa ist für einen kleinen Moment im Gorki Theater in Berlin Wirklichkeit geworden.