Warten, dass die Zeit vergeht
Warten, dass die Zeit vergeht. Dass alles wieder normal läuft, die Selbstverständlichkeiten zurückkommen und sich nicht alles um die Pandemie und die damit verbundenen neuen Realitäten dreht. Ich will mich wieder andersherum drehen, ohne Zögerlichkeiten, ohne den drückenden Sandsack auf meinem Herzen, der mich bei jedem Atemzug, an das Jetzt erinnert. Zeit vergehe. Und wenn ich einen Wunsch äußern darf, bitte in die richtige Richtung.
Ich bin dauerabgelenkt. Ständig schwirren Möglichkeiten durch meine Gedanken. Dinge, die ich tun könnte, nicht dringend, aber irgendwann mal. Sätze, die ich aufschreiben wollte, um sie nicht zu vergessen. Ein Buch, das schon zu lange ungelesen im Regal steht. Ein Thema, nicht aktuell, aber spannend, das eine tiefere Recherche braucht. Ein Ort, an den ich gehen könnte, in der Mittagspause, oder am Abend, oder irgendwann mal, wenn Zeit und Ruhe ist. Dabei ist gerade Zeit und Ruhe, nur nicht in meinen Gedanken. Ich bin dauerunkonzentriert.
Komplexität des Wissen Wollens
Zu den ganzen Themen des Lebens gesellt sich jetzt die Pandemie in ihrer ganzen Komplexität. Täglich neue Erkenntnisse, Artikel über mögliche Strategien, Podcasts mit bekannten Virologen, JournalistInnen oder WissenschaftlerInnen, Meinungen, Erzählungen – unmöglich nur ein Bruchteil davon zu erfassen. Und es geht ja nicht nur um Covid-19, das wäre schon Information genug. Die Auseinandersetzung mit der Pandemie ist wie eine Hydra. Beginne ich das eine zu verstehen, sind in der Zwischenzeit zwei weitere, neue Themenköpfe dazugekommen.
Die Arbeit zieht langsam wieder an. Das Tun wird wieder konkreter, zielgerichteter, auftragsgebunden. Das ist gut, bringt aber neben der Freude und dem Aufatmen darüber eine ganz schwer beschreibbare Unruhe mit sich. Wo ist die vergangene Zeit, wo sind die zurückliegenden zwei Monate geblieben? Was habe ich eigentlich gemacht? Womit habe ich mich beschäftigt? Habe ich diese geschenkte, zusätzliche Zeit sinnvoll genutzt?
In der Regel erinnern wir uns an einzelne Situationen, die wir erlebt haben. An Unternehmungen, Treffen mit anderen Menschen, an Schönes und auch Schreckliches immer verbunden mit einer meist konkreten Begebenheit. Was aber, wenn die Begebenheiten aus profanem Alltag wie – aufstehen, joggen, duschen, Kaffee trinken, kochen, essen, fernsehen, schlafen – und einfach nur sein bestehen, ununterbrochen von Verabredungen, Ausflügen und Begegnungen unterschiedlichester Art? Was hat mein Sein und meinen Alltag vor zwei Wochen, oder drei oder vier bestimmt? Was habe ich gedacht? Gefühlt? Ich erinnere mich an eine Gesamtstimmung, nichts Konkretes, einen wabernden Gefühlsteppich, der auf unruhigem Boden lag und ehrlich gesagt, immer noch liegt.
Erinnerungen sammeln
Seit einigen Tagen gibt es neue Lockerungen und weitere sollen bald folgen. Angehörige zweier Hausstände dürfen wieder zusammenkommen. Meine Schwester lädt uns nach Niedersachsen in ihr Haus ein. Zu Weihnachten haben wir uns das letzte Mal gesehen. Ich freue mich total auf diese kleine Reise und auf meine Familie, auf das Zusammensein. Als wir endlich ankommen, meine Schwester und meine Nichte uns wie üblich an der Tür empfangen, gibt es ein ganz kurzes Zögern, ein Innehalten, wie ein ausgesetzter Atemzug. Dann umarmen wir uns. „Endlich”, flötet mir meine Schwester ins Ohr, und ich entspanne mich. Ich muss dazusagen, ich halte mich sehr konsequent an die Abstands- und Hygieneregelungen, aber in diesem Fall mache ich eine Ausnahme. Es fühlt sich gut an. Die Vorstellung diese beiden Menschen, die mir so nah stehen, nicht in den Arm zu nehmen, unvorstellbar.
Glücksgefühle bei der Abreise, nach fünf sehr erfüllten Tagen. Ich habe neue Erinnerungen gesammelt, schöne in schwierigen Zeiten. Bleibende, denn in schwierigen Zeiten. Momente in der Natur, ein Ausflug ins Naturschutzgebiet Stapeler Moor, das beste Spaghetti-Eis essen und das gleich zweimal, Stadt-Land-Fluss spielen, aber mit außergewöhnlichen Kategorien, ein gutes Glas Wein und Anstoßen auf das Leben.
© Foto Stephanie Drescher