Corona Diary – 16. Juni 2020

Phönix aus der Asche

Drei Monate sind vergangen. Wir waren geschockt, verunsichert, verängstigt. Wir haben diskutiert, uns zurückgezogen, abwartend in unseren Wohnungen und inneren Schutzräumen. Wir haben Nachrichten konsumiert, täglich mehrmals, auf gute Neuigkeiten hoffend. Wir haben eine neue Routine entwickelt, denn wir sind anpassungsfähig. Jetzt müssen andere drei Monate folgen. Wir wollen wieder Leichtigkeit in unser Leben bringen, wieder arbeiten, Freund*innen treffen, Kultur und den Sommer genießen. Wir waren lange genug geduldig. Jetzt wollen wir unser Leben zurück. Aber wo können wir beginnen?

Ich möchte mich neu erfinden. Diese Phasen kommen in regelmäßigen Abständen. Dann geht mir mein Leben gehörig auf die Nerven. Dann erscheint mir jeder Text, den ich schreibe, überflüssig, jeder Gedanke banal, jede Aussicht auf einen spannenden Job, nicht spannend genug. Dann passt kein Kleid mehr, jede Stimmung ist die falsche, jedes tröstende Wort ein Angriff. Zum Glück halten diese Phasen nicht lange an. Und sie haben immer auch etwas Gutes. Aus ihnen erwachsen Ideen, die mich Pläne schmieden lassen.

Die erste Drehreise seit Monaten. Endlich wieder unterwegs sein mit einem konkreten Auftrag im Gepäck. Quer durch Deutschland erleben wir einen Querschnitt von unterschiedlichen Verhaltensregeln mit Corona. Von superstreng bis „bei uns gibt es keine Fälle, wir tragen aber trotzdem die Masken”, ist alles dabei. Auf unserem Weg liegt auch Pirmasens, eine Stadt in Rheinland-Pfalz, die DIE ZEIT einmal als „das Detroit Westdeutschlands” bezeichnete. Ein Spaziergang durch die Fußgängerzone vermittelt, was sie damit gemeint haben könnte. Viele leer stehende Geschäftsgebäude, schmucklose Trostlosigkeit. In einem prächtigen Park ein geschlossenes Café, das in dieser Lage, unter anderen Umständen mit Sicherheit ein Anziehungspunkt ist. Der Spielplatz verwaist, auf einer Parkbank küssen sich schüchtern zwei Teenager. Pirmasens war einmal berühmt für seine Schuhfabriken, recherchiere ich im Internet. Die wenigsten gibt es noch. In einem kleinen, gut ausgestatteten Hutladen kaufe ich mir – bei einer sehr charmanten Verkäuferin – spontan einen Sonnenhut. Er wird mich immer an Pirmasens erinnern und an meine erste Drehreise nach dem Lockdown.

Was hat Corona zum Vorschein gebracht? Was hat es mit mir gemacht? Ich kann es nicht bestimmt sagen, es ist ein schwer zu definierendes Gefühl. Es ist vor allem dieses komische Ziehen in der Brustgegend, ein permanenter Hinweis, vielleicht die Zeit nicht sinnvoll genutzt zu haben. Was hätte ich alles tun können, wozu mir die nötige Kraft fehlte, weil mich die Ereignisse verstrudelt haben? Das wäre doch der perfekte Moment gewesen, mich neu zu erfinden. In der Abgeschiedenheit, unbeobachtet von Freund*innen und Familie, auferstanden wie ein Phönix nach drei Monaten. Ich hätte eine brillante Geschäftsidee entwickeln können, einen neuen Stil für mich entdecken (einschließlich neuer Frisur), eine neue Sprache lernen, eine Fortbildung absolvieren – digital und somit auch neu, gute und nützliche Eigenschaften schärfen und neue, vielversprechende verinnerlichen, konditionieren im besten Fall. Hätte das regelmäßige Joggen, die wöchentlichen Yogaeinheiten, die unregelmäßigen Meditationen, zu täglichen machen können. Ein optimiertes Ich, dank Corona. Hätte, hätte….

Von einer optimierten Gesellschaft dank Corona haben anfänglich viele gesprochen. Solidarität, Verständnis füreinander und Fürsorge? Unbelegt habe ich den Eindruck, dass das eine Sehnsucht war, die sich nicht erfüllt. In Berlin scheint die Pandemie der Vergangenheit anzugehören, nur der Stofffeudel im Gesicht der Menschen identifiziert die Veränderung, eine Frage der Zeit, wie lange diese Verordnungen noch Bestand haben werden. Durch unsere Straße fahren die jungen Hirsche mit ihren gemieteten Luxus-Autos in der 30-Zone, 80 km/h, lassen den Motor aufheulen, den Arm locker am Fensterrahmen baumeln. Ein ganz sicheres Zeichen, dass Berlin langsam wieder in den Normalzustand fährt, ist der wachsende Geräuschpegel. Laubsauger morgens um 7 Uhr unterm Schlafzimmerfenster, Verkehrs- und Baustellenlärm tagsüber, röhrende Teenager am Abend. Einiges, Coronagemachtes werde ich definitiv vermissen, die Ruhe gehört dazu. Lange Schlangen auf dem Kurfürstendamm, Menschen geduldig eingereiht, warten auf das Konsumerlebnis. Das Buchantiquariat im Kiez hat seine Türen für immer geschlossen, die Bar nebenan auch. Das Leben geht weiter, es muss weiter gehen. Nahtlos an das Alte anknüpfen wird es nicht. Wir alle müssen uns neu erfinden, sowieso jeden Tag ein bisschen, ein Phönix sein. Mit oder ohne Pandemie.

Bei unserem Lieblingsfranzosen bestellen wir für einen besonderen Anlass einen Tisch für zwei. Es gibt ihn noch – zwar mit ausgedünnten Tischen – aber es gibt ihn noch. Große Freude beim Wiedersehen. Er erzählt uns, dass er mehr als sonst gearbeitet habe, vakuumiertes Take-away organisiert, die Wiedereröffnung geplant, die Familie noch irgendwo dazwischen gepackt. „Ich habe schon einige Krisen überstanden”, sagt er. „Sie sind immer eine Herausforderung, eine große, aber sie machen uns stärker. Wir schaffen das”, sagt’s und schmunzelt. „Auch das, was jetzt kommt.”

Für mich ein schönes Schlusswort für meinen Corona-Tagebuch-Ausflug, den ich mit diesem Text beende.

© Foto Stephanie Drescher

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert