Verrückter, Irrer, Idiot, Psycho …. Wie viele Wörter existieren in der deutschen Sprache, um Menschen zu bezeichnen, die nicht der Norm entsprechen? Und was ist überhaupt die Norm? Was ist normal und was nicht? In seinem Theaterstück „Versetzung” bringt der Autor Thomas Melle seine bipolare Erkrankung auf die Bühne des Deutschen Theaters in Berlin. Und lässt die Zuschauer ob solcher oft abfällig in den Raum geworfenen Benennungen auf gewisse Weise beschämt zurück.
Daniel Hoevels kommt unmittelbar auf die Bühne und sofort wird seine Wirkkraft spürbar. Er spielt den Lehrer Ronald Rupp, die Zuschauer sind seine Schüler. Eine große Frage steht im Raum: „Möchte man lieber Täter oder Opfer sein?” Ronald Rupp beantwortet sie ganz klar: Opfer! Alles andere wäre mit seinem ethischen Gewissen nicht vereinbar. Im Laufe der darauffolgenden zwei Stunden erfüllt sich dieser hypothetische Gedanke und kehrt sich in die Realität um. Der Lehrer Ronald Rupp wird zum Opfer seiner psychischen Erkrankung, seiner manischen Depression. Seine Karriere, sein Privat- und Familienleben, seine aussichtsreiche Zukunft, alles zerbricht an ihr. Seine in den ersten zehn Minuten indirekt geäußerte Aufforderung, dass es doch darum ginge ”füreinander da zu sein” wird mit Missachtung gestraft. Am Ende wird er allein sein. Seine Frau, seine Kollegen und Schüler, alle haben ihn verlassen.
Krankheit und Gesellschaft
Dabei fühlt es sich doch gerade an, als meine das Leben es so richtig gut mit ihm. Sein Vorgesetzter Schütz (Helmut Mooshammer), ein weißhaariger, gutmütiger Gelehrter, möchte ihm, seinen Kollegen mit „Charakter und mehr als Kompetenz“, den Direktorenplatz überlassen. Seine Frau Kathleen, bemerkenswert gespielt von Anja Schneider, ist in den ersten Wochen schwanger, das Kollegium schätzt und die Schüler lieben ihn.
Doch „das Leben wird dich kriegen”, singt seine einstige Geliebte Manu (Birgit Unterweger) und Mutter seiner besten Schülerin Sarah (Linn Reusse) lasziv. Ja, es kriegt ihn! Und daran ist die Verlassene nicht ganz schuldlos. Manu zwingt ihn, sich an sie zu erinnern, sie verführt ihn im Lehrerzimmer. Denn sie hat nie verkraftet, dass er die Beziehung beendete; hat nicht verstanden, dass er in der Psychiatrie landete. Sie lässt im Kollegium und bei seiner Frau Kathleen durchsickern, dass er, der hochgelobte Lehrer vollkommen krank sei. Sie wisse es wohl am besten, denn sie kenne ihn schon aus Studienzeiten.
Die Vergangenheit holt Ronald Rupp ein. Rektor Schütz, auch wenn er ihn gerne befördern und vermutlich auch „schützen” will, muss ihn entlassen. Er wirft Ronald Rupp vor, beim Amtsarzt seine Erkrankung verschwiegen zu haben. Rupp versteht die Welt nicht mehr. Er habe sich doch im Griff, sei geheilt. An dieser Stelle wird sein verqueres Selbstbild oder auch seine Selbsttäuschung deutlich. Denn bemerkt er selbst keine Veränderung, so lösen doch der Stress und die Zweifel einen neuen Krankheitsschub aus. Er kämpft zwar mit seinen Dämonen, doch verliert sich und seinen Rhythmus im Leben.
Vom Vorzeigelehrer zum Clochard. Die Zuschauer werden eindrücklich Zeugen dieser mehr und mehr sicht- und hörbar werdenden Verwandlung. Fast schämt man sich. Einmal, weil der anfänglich sympathische Lehrer sich zum Zügellosen steigert. Einmal, weil die Gesellschaft, samt Frau und Kollegen sich abwendet. Die Krankheit dreht voll auf, lässt Ronald Rupp exzessiv Geschichten fabulieren, Wörter formen, Gedichte reimen, die über eine hohe Redegewandtheit hinausgehen. Daniel Hoevels meistert die Zungenbrecher mit Bravour. Rupp verrennt sich in Sätzen, versteht nur, was er auch verstehen will oder falsch. Seine Sprache wird unfehlbar zur Analogie seiner inneren zerrissenen Welt. Sagt seine Frau Kathleen zu Anfang des Stücks, dass sie ihn oft nicht sehen könne, bestätigt sie am Ende, dass sie ihn nun gar nicht mehr sehe. Der, den sie kannte, ist in der Bipolarität verschwunden. Sie kapituliert.
Johanna Pfaus Bühne, eine Art Podest, erinnert mit der hellblauen Farbe an einen Swimmingpool. Zum Schluss wird sie zur Kippbühne und zwingt das Ensemble an den äußersten Rand. „Wir sind alle Kippfiguren” erklärt Ronald Rupp kurz vor seinem Ausbruch in einem Streitgespräch mit seinen Kollegen, fast schon um zu sagen, es kann uns alle treffen. Und ist es nicht auch so?
Bipolarität ohne Schleudersitz
Thomas Melle verfasste das Bühnenstück basierend auf seinen autobiografischen Roman „Die Welt im Rücken”, als Auftragsarbeit für das Deutsche Theater. Exemplarisch für die Gesellschaft lässt er die Szenerie in einer Schule spielen. Hier, wo der Mensch beginnt, fürs Leben zu lernen entwickelt sich die Tragödie eines Einzelnen und stellt die Direktiven des gesellschaftlichen Zusammenlebens infrage. Warum darf ein bipolarer Mensch nicht Lehrer sein? Warum sind manche Krankheiten besser als andere?
Die Bipolarität wird in einer breiten Masse, die „geistige Gesundheit” voraussetzt, zum Makel. Sünden der Vergangenheit, in Rupps Fall auch ein Gedichtband mit dem einprägenden Namen „Psychocolada der Muttermundart” vom Lehrerkollegen Falckenstein (Christoph Franken) als krank bezeichnet, werden zu Stolpersteinen.
Normal ist, wer sich normal verhält. Alles andere könnte als ein gravierender Schönheitsfehler im System missverstanden werden. „Versetzung” von Thomas Melle öffnet den Blick und lässt uns vielleicht in Zukunft den „Psycho” oder „Irren” nicht mehr so leicht über die Lippen kommen.
Das Stück ist in diesem Jahr für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert, der im Juni vergeben wird.
© Fotografie Arno Declair