Wie schafft man es, mehr als 1000 Seiten Literatur in ein Bühnenstück umzuwandeln, und dabei viereinhalb Stunden konstant die Spannung zu halten? Wer glaubt, dass das ein unmögliches Unterfangen ist, irrt. Die Regisseurin Jette Steckel hat es zusammen mit den Dramaturginnen Julia Lochte und Emilia Heinrich gewagt und ein Bühnenepos geschaffen, das lange nachhallt. Im Rahmen der Autorentheatertage in Berlin zeigte das Deutsche Theater „Das achte Leben (Für Brilka)”. Im vergangenen Jahr wurde das Stück bereits am Thalia Theater in Hamburg uraufgeführt.
Seit Monaten schon steht der Roman „Das achte Leben (Für Brilka)” der georgischen Autorin Nino Haratischwili in meinem Bücherregal und genauso lange schon schleiche ich um den Wälzer herum. 1275 hauchdünne Buchseiten wollen die Zeit finden, gelesen zu werden. Bis jetzt: Denn nach einem unglaublich intensiven Theaterabend, der mich staunend, bewegt und beseelt aus dem Deutschen Theater kommen lässt, beginne ich sofort mit der Lektüre. Ich muss einfach noch mehr über diese vielschichtigen Charaktere erfahren, die mir auf der Bühne präsentiert wurden, mit denen ich mitfiebern konnte und die mich zeitweise bis zu Tränen gerührt haben.
Da ist Stasia (Barbara Nüsse), 1900 geboren, mit ihr beginnt die Familiensaga. Stasia die nichts anderes möchte als tanzen, sich dann doch der Liebe beugt und den Traum eine berühmte Tänzerin in Paris zu werden, ziehen lässt. Da ist Christine (Karin Neuhäuser), ihre jüngere überirdisch schöne Halbschwester, die nach dem Betrug an ihrem Mann, einen hohen Preis zahlt. Da sind Stasias Kinder Kitty (Maja Schöne) und Kostja (Sebastian Rudolph), die verschiedener nicht sein könnten. Und Kostjas aufmüpfige Tochter Elene (Cathérine Seifert), die wiederum zwei Töchter von zwei verschiedenen Männern bekommt. Daria (Franziska Hartmann), der Star und Niza (Lisa Hagmeister), die Einzelgängerin, die ihre Schwester abgöttisch liebt. Und dann ist da noch Brilka (Mirco Kreibich), Darias Tochter, wegen ihr gibt es überhaupt diesen Roman und somit auch diese unglaublich gute Bühnenfassung.
Regisseurin Jette Steckel bringt ein Wunderwerk auf die Bühne
All diese Lebensgeschichten sind eng verwoben mit dem Aufkommen und Scheitern des Kommunismus. Sie fallen in die Zeit der Kriege, der Gewalt und Machtgier und einer politischen Herrschaft, die sich unmenschlich und totalitär zeigt und nichts als Schrecken hinterlässt. Eine Zeit, die nachklingt, bis heute. Was hätte sein können, wenn nicht…stellt sich mir an diesem Abend so oft die Frage? Sie bleibt natürlich unbeantwortet, weil Spekulation. Umso tröstlicher, dass es immer weitergeht, irgendwie, denn es muss ja weitergehen. Doch ist dieser Umstand in aller Konsequenz wirklich tröstlich? Ich finde schon. „Lets keep smiling, lets keep laughing, lets be happy…”, singt Kitty, und trifft es so einfach genau, worum es im Leben am Ende doch geht: glücklich sein. Aber wie funktioniert dieses glücklich sein im Inneren, wenn im Äußeren das Chaos herrscht und „die ganze Welt die Besinnung verloren zu haben scheint?” Darauf weiß wohl nur das Leben eine Antwort. Das Ensemble des Thalia Theaters jedenfalls, läuft mit dieser Bühnenadaption einen Marathon, beeindruckend in seiner Ausdruckskraft, explosiv in seiner Intensität und wahrlich außergewöhnlich.
Der rote, überdimensionale Teppich, in den die Lebensgeschichten eingewoben sind, wie Stasia zu Beginn des Abends ihrer Lieblingsurenkeltochter Niza erzählt, und der das Bühnenbild beherrscht, dieser Teppich fällt am Ende und mit ihm die Geschichten. Plötzlich ist Raum da für Neues. Schmerzlich befreiend. Geschichte wird zur Gegenwart. Und Brilka, deren eigene Geschichte noch nicht geschrieben ist, sie tanzt, tanzt den Traum ihrer Ururgroßmutter und das achte Leben beginnt. Bravo!
Im September reist das Ensemble nach Tblissi, um das Stück am Rustaveli Theater zu spielen. Wer zu der Zeit gerade in Georgien weilt, sollte es auf keinen Fall verpassen.
© | Foto: Stephanie Drescher