Sonntag vierter Advent. Der Wecker klingelt zeitig, ein Ausflug aufs Land ist geplant, der frühe Vogel fängt den Wurm. Wir frühstücken, noch einen Kaffee auf die Hand und dann geht es los Richtung Brandenburg. Klare Luft für klare Gedanken.
Als wir auf die Autobahn fahren, geht die Sonne gerade auf wie eine Blutorange. „Mist, wir hätten noch frühere Vögel sein müssen, das Schauspiel auf einer Lichtung oder so beobachten”, denke ich, „aber trotzdem superschön.” Ich fühle mich wie die Hauptdarstellerin in einem Roadmovie auf der Flucht vor einem unsichtbaren Feind, die Stadt im Rücken, den verheißungsvollen Tag vor mir, ohne zu wissen, was er bereithält.
Schlafen im Wald
Auf dem Land ist es mindestens einen Pullover kälter als in der Stadt und ein leichter Raureif liegt auf Laub und Wiesen. Am Waldrand macht ein Pärchen gerade Feuer. Beide sind dick eingepackt, sehen aber trotzdem ziemlich verfroren aus. Im Wald steht ein durchgehangenes Zelt. Schon der Gedanke, bei diesen Temperaturen draußen zu übernachten, verursacht bei mir einen leichten Schüttelfrost, der sich zu einem mittelschweren entwickelt, als wir nur ein paar Schritte weiter einem Fahrradfahrer begegnen, der gerade seine Sachen zusammenpackt, um weiterzuziehen. Ein heller, körpergroßer Abdruck im Laub deutet an, dass auch er hier im Wald übernachtet haben muss, offenbar aber ohne Zelt, denn so viel Gepäck hatte er nicht dabei.
Sollten wir den Ernstfall proben?
Proben die alle schon den Ernstfall? Überleben in der freien Natur bei Minustemperaturen, während in der Stadt das Virus von Mensch zu Mensch zieht? Ich frage mich, was man im Wald macht, wenn es zwischen 16:30 Uhr und 07:30 Uhr stockdunkel ist und dir die Minustemperaturen unter die Haut kriechen? Gemütlich im Arktisschlafsack, bei Taschenlampenlicht Abenteuerromane lesen? Oder gehört in jede Überlebensausrüstung auch eine große Packung Schlaftabletten, damit die Nacht nicht allzu lang wird? Bitte nicht falsch verstehen, ich habe ein ausgesprochen großes Herz für das Landleben und die Natur, schließlich bin ich in der tiefsten Provinz aufgewachsen. Da gehörte Fährten suchen und finden, genauso zum draußen an der frischen Luft sein und sich die Zeit vertreiben, wie lange (tägliche) Waldspaziergänge mit dem Hund, Staudämme bauen und Kaulquappen fangen.
Während wir querfeldein laufen, lässt mich die ”Winter-im-Wald-Schlaferei” nicht los, aber für eine ausgiebige Fragestunde war der Moment erstens nicht passend und zweitens im Vorbeilaufen zu schnell vorüber. Welche Motivation steckt hinter diesem Bedürfnis bei Kälte und Dunkelheit freiwillig draußen in der Pampa zu übernachten? Ist es weise Voraussicht? Sollten wir uns schon mal alle daran gewöhnen, dass das auf uns zukommen könnte? Schluss mit lustig und Komfort.
Als ich den letzten Text für meinen Blog schrieb, war Sommer, der erste Lockdown lag hinter uns, die Welt schien gerade wieder aufzuatmen, das Leben fand wieder statt. Zwar noch nicht so, wie wir es gewohnt waren, aber es hatte einen kleinen Anschein davon. Jetzt ist auch das längst Vergangenheit und die Sehnsucht nach dem kleinen Anschein groß. Weihnachten steht kurz bevor. In den Fenstern leuchten die Herrnhuter Sterne und die Lichterketten, aber nur sie erinnern mich an das Weihnachten, wie ich es kenne.
Monster und Mutationen
Heute appelliert Lothar Wieler, der Chef des Robert-Koch-Instituts, eindringlich an die Bevölkerung, die Kontakte während der Feiertage gering zu halten, „im kleinsten Familienkreis. Es stehen uns schwere Wochen bevor. Es gibt neue Höchstzahlen”, sagt er außerdem. Und es gibt nicht nur das, sondern auch noch eine Virusmutation, die offenbar ansteckender ist als die, die wir bereits kennen. Innere Apokalypse. Ich stehe im Stroboskoplicht und tanze den Gefühlszirkus.
Jetzt ist eine Phase in der Pandemie erreicht, die meine Zuversicht deutlich dämpft, dass wir mit all den Vorsichtsmaßnahmen und der Aussicht auf zeitnahes Impfen bald aus dem Schlimmsten heraus sein könnten. Was nicht bedeutet, dass ich vorher glaubte, dass damit die Nebenwirkungen und nachhaltigen Folgen, die Covid-19 zwangsläufig mit sich bringen wird, wie Misstrauen, mangelnde Leichtigkeit, Argwohn, Zweifel, Trauer, massenhaft Insolvenzen und kleine Geschäfte-Sterben, Aggressivität und Depression sich gleichwohl schleichen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wenn das Virus endlich an Kraft verliert und nicht mehr vordergründig unseren Alltag bestimmt, es trotzdem noch sehr lange dauern wird, bis wieder eine Form der Leichtigkeit und Spontanität in Begegnungen Einkehr hält. Bis die Menschen sich einigermaßen erholt haben. Bis das Trauma von Verlust verarbeitet sein wird, die Wirtschaft sich erholt, wir wieder reisen, in Bars sitzen und auf Konzerte gehen. Mit dieser neuen Variante des Virus und der Möglichkeit weiterer Mutationen habe ich gerade das Gefühl, Lichtjahre entfernt zu sein von dem Leben, dass ich leben möchte.
Fröhliche Weihnachten
Ich plane die Festtage zu zweit, mit allem Drum und Dran. Menüabfolge für die unterschiedlichen Tage mit Weinbegleitung, Festtagskleidung, passende Musikauswahl und Dekoration für die Weihnachtstafel. Das ein oder andere Päckchen ist auch schon angekommen. Am 24. Dezember darf ausgepackt werden. Geschenke von der Familie. Distanzbescherung. Jedes Jahr fragen meine Schwester und ich uns gegenseitig, was wir uns wünschen. „Ach, weißt du, ich habe doch alles, was soll ich mir wünschen”, antwortet dann jede, „außer Zeit miteinander zu verbringen und Gesundheit. Ja, das wünsche ich mir.” In diesem Jahr sind diese zwei Wünsche stärker denn je.
© Foto Stephanie Drescher
Großartig geschrieben Steph!!
Wir wünschen euch besinnliche Feiertage. Bleibt gesund.
Herzliche Grüße
Uwe und Heike
Lieber Uwe,
ich sehe deinen Kommentar erst jetzt! Danke für deine Rückmeldung, darüber freue ich mich sehr!
Wir hatten besinnliche Feiertage, ihr hoffentlich auch?!
Liebe Grüße, Steph
Liebe Steph,
ich verfolge deinem Blog schon eine ganze Weile und liebe deine Gedanken, die du treffsicher formulierst.
Ich habe auch sooooo viele Gedanken zu der Situation, was machen in der dunklen Zeit mit den Drillingen, die mittlerweile 12 sind und zu Wanderungen ohne Highlight nur schwer zu motivieren.
Dieses niederzuschreiben in einem Blig, eine tolle Idee. Ist das ein Buch mit 7 Siegeln.
Ich grüße dich und euch sehr herzlich aus der Ferne. Wir sprechen noch immer oft von dir und auch Liza, Luca & Lara erinnern sich an euch im Schrebergarten!
Es grüßt und umarmt dich herzlich, Tanja
Liebe Tanja,
oh, wie freue ich mich von dir zu hören! Danke für deine positive Rückmeldung. Ja, ich denke wirklich auch oft an dich und euch. Unglaublich, dass die Kinder schon 12 sind. Wo seid ihr inzwischen und wie geht es euch? Ein Blog über dein Leben mit Drillingen wäre ganz sicher auch sehr lesenswert und ich würde ihm gerne folgen.
Ganz liebe Grüße an euch alle und ich hoffe, es geht euch gut!
Herzlich, Steph