Ganz zart beginnt Oliver Urbanski das Gedicht „Sieben Häute” der Lyrikerin Sarah Kirsch in sein Mikrofon zu sprechen, der Saal lauscht gespannt, nicht ahnend, was folgt. Oder doch? Schließlich hat das Konzerthaus Berlin zum „Cadavre exquis” in den Werner-Otto-Saal eingeladen. Der Franzose André Breton, surrealistischer Theoretiker und Autor, erfand dieses etwas andere Gesellschaftsspiel. Surreal war der Abend allemal und gespielt wurde auch, was das Zeug hält.
Die Spielregeln für „Cadavre exquis” sind ganz einfach: Die Person, die beginnt, malt ein Körperteil auf einen Zettel oder schreibt ein Wort auf, faltet das Papier und reicht es weiter. Am Ende entscheidet der Zufall über das Ergebnis des Bildes oder Satzes. Ein Spaß mit einer meist humoresken, absurden Auflösung. Aber geht das auch mit Musik? Natürlich, dachte sich die Dramaturgin Christine Mellich für das diesjährige „Open your ears-Projekt” am Konzerthaus Berlin. Engagiert wurden insgesamt vier Komponist*innen, Klangkünstler*innen, Performer*innen und eine Autorin. Die wiederum erarbeiteten in vier unterschiedlichen Schulklassen Kompositionen und Texte. Jedes Team bekam knapp 10 Minuten. Die Arbeit der Anderen: ein Geheimnis. Nur die jeweils letzten drei Partiturseiten wurden weitergereicht. Darauf musste die folgende Gruppe aufbauen.
Am vergangenen Donnerstag wurde das Stück uraufgeführt. Und auch alle Komponist*innen hörten es zum ersten Mal. Staunen und Überraschungsmomente waren beabsichtigt, schließlich wurde „Cadavre exquis” gespielt.
Der Komponist Gordon Kampe macht den Auftakt. Seine Inspirationsquelle: das Sarah Kirsch Gedicht. Es scheppert, quietscht und geigt, bis zum Flattern des großen Ohrnervs. Bis zum nach oben Rollen der Zehennägel. Bis zum ersten Impuls, die Hände auf die Ohren pressen zu wollen. Die Sängerin Margarete Huber und der Countertenor Daniel Gloger schmettern ihren Text. Von überallher kommen undefinierbare Geräusche, erzeugt von einer Violine, einer Geige, einer Tuba, Klarinette und Schlagzeug. Autofelgen, Tamburin, Metall. Klassische Musik war gestern, wir befinden uns im surrealen Musikraum. Zehn Minuten Wirrwarr der Töne und Stimmen. Dann ist der Spuk plötzlich vorbei und der zweite Teil des Stückes beginnt. Den erarbeitete die Komponist*in und Performer*in Neo Hülcker gemeinsam mit der Autorin Elisabeth R. Hager (Libretto). Er ist gänzlich anders als der erste und ich fühle mich ehrlich gesagt erleichtert. 40 Minuten absolute Ohranspannung wären zu viel des Surrealen. Es geht ruhiger weiter.
Herr Flucht und Frau Pflicht, gesprochen von Margarete Huber und Daniel Gloger führen durch ihre Geschichte. Erzählen von Reizwörtern, wie „Asylantrag” und „Jobcenter”, „Klassenarbeit” und „Leistungsabfall”. „Wir haben uns mit ritualhafter Besessenheit beschäftigt”, erklärt Elisabeth R. Hager in einem Infogespräch, das vor der Aufführung stattfindet. Dabei hätten sie die aktuellen Themen der Jugendlichen in ihrem Workshop aufgegriffen und weiterverarbeitet. Es geht also um Flucht und Pflicht in Elisabeth R. Hagers Text, den Neo Hülcker, neben den klassischen Instrumenten mit viel experimentellem Ton untermalt. Da werden Zeitungen zerrissen und zusammengeknüllt, Gaffa Tape entrollt, Alufolie knistert, Messer schneiden Pappe. Mit einem Dauertelefonbesetzzeichen endet Teil zwei, der die Erkenntnis bringt, wie viele unterschiedliche Töne Papier erzeugen kann. Und wie viel Spaß dies macht.
Auch die Klangkünstlerinnen Antje Vowinckel und Antye Greie-Ripatti setzen das Medium Sprache und Ton unkonventionell ein und greifen die vorausgegangen Themen auf. Lassen die Schüler*innen zum Beispiel in unterschiedlichen Institutionen anrufen und die Reaktionen ihrer Gesprächspartner*innen aufnehmen. Das so entstandene Sammelsurium an Antworten kommt absurd daher. Mal pampig, dann wieder hilflos oder ratlos. „Herzlich willkommen in der Zentrale”. „Warum werden sie verfolgt?” „Wer ist die Pflicht?” „Sie müssen genau sagen, was sie wollen, sonst kann ich Ihnen nicht helfen.”
„Cadavre exquis – ein Melodram” ist ein surreales Klanggewitter mit Wort. Tongewaltig und inhaltlich subtil. Sind die ersten 10 Minuten geschafft, erscheinen die verbleibenden 30 wie ein Spaziergang durch eine vielversprechende Landschaft von Geräuschen, Rhythmen und Motiven und setzen schließlich – trotz des fragmentarischen Ausgangspunktes – das Stück zu einem großen Ganzen zusammen. Und spätestens dann überwiegt die Freude über die Vielfalt der Töne.
Seit 15 Jahren bringt das „Open your ears -Projekt” einmal im Jahr Jugendliche und renommierte Komponist*innen zusammen, um die Sinne für innovative Musik zu schärfen und um neugierig zu machen. Ein spannendes Experiment, wie „Cadavre exquis – ein Melodram” in diesem Jahr zeigte.
Wer es im Konzerthaus verpasste, kann es im Radio nachhören: Am 06.04.2018 sendet der Deutschlandfunk Kultur den Mitschnitt des Konzerts in der Sendung „Klangkunst”.
© | Stephanie Drescher