Es ist Tanz. Wild und bunt. Laut und ungehemmt. Es ist der einzige Weg zu überleben. Sich freizukämpfen aus dem Korsett des Daseins, des Wollens und Müssens und des unvermeidlichen Todes. Eine Armee von energetischen Tänzer*innen beherrscht für 70 Minuten die Bühne des Maxim-Gorki-Theaters und hinterlässt ein begeistertes Premierenpublikum.
Der Applaus braust schon auf, als die Bühne noch dunkel und keine Tänzer*innen zu sehen sind. Spannung liegt in der Luft. Und die Erwartungen an Hillbrowfication, dem neuen Stück von Constanza Macras sind offenbar groß. Sie werden nicht enttäuscht.
Die Überlieferung besagt, dass die Menschheit von Aliens angegriffen wurde. Nur diejenigen überstanden die Invasion, die tanzen konnten, nur Afrikaner versteht sich, alle anderen starben. Jetzt probieren sich die Überlebenden aus. Schlüpfen in unterschiedliche Rollen, singen, schauspielern und tanzen, natürlich. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, ganz im Gegenteil.
Es ist schillernd und das liegt nicht nur an den farbenprächtigen Kostümen und Gesichtsbemalungen, sondern vor allem an der unglaublichen Ausdruckskraft und der Präsenz, die die zwischen 5 und 19 Jahren alten Tänzer*innen spüren lassen. Sie ruhen sich keine Minute aus, denn „die Aliens wollen die Welt brennen sehen”. Genau das gilt es, mit allen Mitteln tanzend zu verhindern. Sie sind zuweilen zornig in ihren Bewegungen, manchmal abgehackt, sich selbst fremd, um dann wieder im Rhythmus der Trommeln oder eines lauten Discobeats alles zu geben.
Jugendliche vom südafrikanischen Hillbrow Theatre Project in Berlin
Ihre Darbietung ist ein Blick in die Zukunft von Hillbrow, dem Vorort von Johannesburg, der lange Zeit der Vorzeigestadtteil der südafrikanischen Metropole war, bis er in den 1990er Jahren mehr und mehr in Gewalt und Armut abrutschte. Hier leben fast alle der 23 Tänzer*innen. Hier werden sie am „Hillbrow Theatre Project” ausgebildet. Einem Projekt, das Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit gibt sich über Tanz, Schauspiel und Gesang Ausdruck zu verleihen und ihnen in einer sich ständig verändernden Umgebung, die nicht selten von Fremdenhass und Kriminalität gezeichnet ist, ein kleines Stück Sicherheit geben will.
In Hillbrowfication, das Constanza Macras zusammen mit der Choreografin Lisi Estarás erarbeitete, kreiert sie eine Utopie oder ist es eher eine Dystopie? Das müssen wohl die Zuschauer*innen für sich selbst entscheiden, liegt es doch, wie sooft im Auge der Betrachter*innen, wie sich das Stück deuten lässt. So oder so ist es eine Aussicht auf eine sich verändernde Welt, in der Mobiltelefone an Händen wachsen – allerdings nur für Nostalgiker, alle anderen kommunizieren über andere Wege. Oder Aufzüge gar nicht mehr gebraucht werden, weil die Menschen so elastisch sind, dass sie Höhen ganz einfach überwinden können. In dieser Welt wechselt sich Zorn mit purer Freude ab. Da wird sich gerettet und getröstet und Leonhard Cohens „Hallelujah” fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, aber mit absoluter Vehemenz und Überzeugung vorgetragen. „Leben ist von Natur aus kreativ”, wird gefachsimpelt und man kann beim Anblick dieser jungen Talente nur mit dem Kopf nicken. Die große Stärke des Stücks liegt in der Performance. Die Tänzer*innen, die Kinder und Jugendlichen sind sensationell. Sie holen alles aus sich heraus, so scheint es, und das mit großem Selbstbewusstsein.
Constanza Macras Hillbrowfication begeistert
Gänsehaut bringt der amerikanische Folksong „Wayfaring stranger” fast am Ende der Vorstellung, gesungen mit glasklarer Stimme, immer wieder den Refrain wiederholend, nicht ankommen wollend im Land der Zuversicht, wo es keine Gefahren mehr gibt. Im Hintergrund tummeln sich die anderen Tänzer*innen eng aneinander, so als wollten sie sich gegenseitig schützen. Ein vorrübergehender Trugschluss, denn kurz darauf bringen sich alle in Position, stehen sich kämpferisch gegenüber. Jetzt tritt, beißt und schlägt jede gegen jeden, zu brachial lauter Musik. Eine gefühlte Ewigkeit dauert diese Sequenz und ist dabei fast nicht auszuhalten. Als es dann vorbei ist, schlägt kurz die Stille zu, dann gibt es Standing Ovations und feurigen Applaus.
Noch zwei Tage, am 02. und 03. Juni ist Hillbrowfication im Gorki Theater zu sehen, dann reist die Formation weiter, um zu tanzen.
© Foto | John Hogg