Ein Raum, der bezwungen werden muss, das war der erste Gedanke, den Risk Hazekamp hatte, als sie die 700 Quadratmeter große Ausstellungshalle der Pennings Foundation in Eindhoven sah, in der sie Social Dissolution of the West zeigen wollte. Eine Herausforderung, die die Künstler*in gerne annahm. Sie installierte zusätzliche Säulen in den Raum, zog eine Wand ein und baute Sockelvitrinen, die sie im Raum verteilte. So strukturierte sie die Räumlichkeiten für ihre Fotografien, das gesammelte Archivmaterial und die unterschiedlichen Installationen. Herausgekommen ist ein Kunstprojekt, das einen sehr vielschichtigen Blick auf zwei Ereignisse wirft, die sich in diesem Jahr zum fünfzigsten Mal jähren.
2013 verbrachte die Fotograf*in Risk Hazekamp, einer Einladung folgend vom SOMA, einer mexikanischen Organisation, die nationale und internationale Künstler*innen in den Dialog miteinander bringt, drei Monate in Mexiko-Stadt. Dort arbeitete sie an einer sehr persönlichen Geschichte. Ihre Tante Eljo Kuiler und ihr Onkel Jan van Laarhoven lernten sich vor 50 Jahren in Mexiko kennen, verliebten sich ineinander, wurden ein Paar. Anlass waren die Olympischen Sommerspiele, die am 12. Oktober 1968 in Mexiko-Stadt eröffnet wurden. Eljo Kuiler nahm als Turmspringerin, Jan van Laarhoven als Ruderer an den Spielen teil.
Die Künstler*in durchleuchtet dies Begegnung aber nicht rein dokumentarisch. Sie begibt sich auf eine Reise in ihre eigene Vergangenheit, erforscht ihren Blick, den sie als Kind auf die romantische Liebesbeziehung ihrer Tante und ihres Onkels in der Retrospektive. Wie viel davon ist geblieben, heute 50 Jahre später? Denn während ihrer Recherche stößt Risk Hazekamp auf weit mehr, als sie erwartet hatte. 1968 fanden in Mexiko-Stadt nicht nur die Olympischen Spiele statt. Zehn Tage vor dem Beginn der internationalen Sportveranstaltung richteten Militär und Sicherheitskräfte in dem Austragungsort ein Blutbad an.
Am 02. Oktober 1968 versammelten sich mehr als 10 000 Menschen in Mexiko-Stadt auf dem Platz der Drei Kulturen im Stadtteil Tlatelolco. Es waren Student*innen, aber auch Arbeiter*innen und Anwohner*innen, die die seit Wochen andauernden Proteste für mehr Reformen in dem autokratischen Land unterstützen wollten. Die mexikanische Regierung unter Führung des Präsidenten Gustavo Díaz Ordaz ordnete die Niederschlagung der friedlichen Demonstration an und nahm die Ermordung von mehr als 300 Menschen in Kauf. Erst viele Jahre später wurden die Hintergründe des gewaltsamen Vorgehens der Regierung aufgedeckt. Auch sollte das blutige Massaker den Spielen keinen Abbruch bereiten und das Internationale Olympische Komitee tat einfach so, als wäre nichts geschehen.
Risk Hazekamp begibt sich auf ihrer Reise durch Mexiko-Stadt unter anderem an die Orte, die sie von alten Fotografien ihrer Tante und ihres Onkels kennt, fotografiert sie, immer analog. Sie zeigt den Ort des Massakers, sammelt Archivmaterial über die Olympischen Spiele, die vorausgegangenen Studentenproteste und ihre blutige Zerschlagung. Sie spricht mit Zeitzeug*innen, ihrer Tante und ihrem Onkel über diese Zeit. Wie präsent waren die Gewalttaten der politischen Führung für die Teilnehmer*innen der Olympischen Spiele? Wie wurden die Spiele in der Stadt erlebt, so unmittelbar nach der massiven Staatsgewalt? Die Fotograf*in verzichtet bewusst auf Zusatzinformationen. Ihr Konzept lebt von der Direktheit ihrer Bilder, es ist pur, spricht unmittelbar an und lässt viel Raum für Interpretationen. Es ist alles da, was die Besucher*innen wissen müssen, sie müssen es nur entdecken. Es kribbelt in den Fingern, sich selbst noch einmal hinzusetzen und nachzuschlagen, was da eigentlich passiert ist vor 50 Jahren, zum größten Teil verborgen vor der internationalen Öffentlichkeit und von der mexikanischen Regierung unter den Teppich gekehrt.
Sehr eindrücklich ist ein ausgestellter Brief an Jan van Laarhoven. Geschrieben von seinem Bruder, der aus der Distanz das Vorgehen der mexikanischen Regierung thematisiert, Fragen stellt und Jan bittet auf sich achtzugeben. Außerdem die 26 Scheinwerfer in dem kleineren Raum der Ausstellung, in dem im Mittelpunkt ein nachgebautes Sieger*innenpodest platziert ist. Die Scheinwerfer stehen auf unterschiedlich hohen Stativen und geben genau die Winkelausrichtung der Scharfschützen wieder, die mit ihren Waffen auf Menschen zielten und sie ermordeten.
Social Dissolution of the West ist ein Spiel mit der Perspektive, das gespielt werden will. Wie sehen wir die Realität und wie viel davon ist wahr für jede und jeden einzelnen? Wie lesen wir Kunst und die Bilder, die wir anschauen?
Risk Hazekamp zeigt analoge Fotografie, zum Teil doppelt belichtet. So verbindet sich Vergangenes mit Gegenwärtigem. Sie malt einen fallenden Menschen an die Wand, lässt einige ihrer Fotografien über den Fußboden in den Raum lappen. In den Sockelvitrinen, die das Archivmaterial ausstellen, hat die Künstler*in Spiegel eingebaut. Man sieht sich selbst, sobald man sich über das Material beugt, um es anzuschauen oder zu lesen. Es gibt Korrelationen und viele Deutungsmöglichkeiten in der gesamten Ausstellung. Es lohnt sich, sie zu ergründen.
Risk Hazekamp: „Social Dissolution of the West“ bis zum 28.10.2018 in der Pennings Foundation in Eindhoven
© | Risk Hazekamp Marching, 2018