Vor drei Jahren traf ich die japanisch-italienische Künstlerin Tomoko Nagao im Rahmen eines Filmprojektes zum ersten Mal. Ihr Thema sind die alten – meist italienischen Meisterwerke – die ihr als Vorlage für ihre eigene Kunst dienen. Um die Motive auf Anhieb zu erkennen, muss man sich entweder sehr gut in der Kunstgeschichte auskennen oder das Original direkt zum Vergleich vor Augen haben. So oder so, Tomoko Nagaos Kunst ist auf jeden Fall eine Reise nach Mailand wert, wo ich nun, zum Anlass ihrer neuen Ausstellung, erneut mit der Künstlerin verabredet war.
Tomoko Nagao liebt es bunt. Ihre Werke haben die Anmutung von Wimmelbildern, in denen so viel passiert, dass man all die Informationen und Botschaften nicht auf den ersten Blick erfassen kann. Ständig stolpert man über etwas Neues, entdeckt winzige Details, die einen nicht selten schmunzeln lassen. Tomoko Nagaos aktuelle Ausstellung Iridescent Obsessions – Schillernde Obsessionen, in der Mailänder Galerie Deodato Arte präsentiert ein breites Spektrum ihres Schaffens: Bunte Drucke, digital entworfen, Bilder auf Plexiglas, Malerei, Animationen und Skulpturen. Sie zeigt unter anderem den Zyklus Flowers, Interpretationen der klassischen flämischen Blumenvasen, die der flämische Maler Jan Brueghel der Ältere in vielen Variationen malte. Die Künstlerin überträgt die Vielfalt der diversen, farbenprächtigen Blumenarten, durch digitale Nachbearbeitung in ihre Bilder. Dabei ist sie fast manisch im Detail. Farbenprächtige Blumen treffen auf Aspirin-Verpackungen, auf Calippo-Eis, auf Chanel-Lippenstifte und Dolce & Gabbana-Sonnenbrillen. Hat die Künstlerin vor Jahren ihre ersten Entwürfe noch mit Bleistift gefertigt, entstehen sie jetzt am Computer mit einem professionellen Illustratorprogramm. Sie zeichnet mit Vektoren, fügt unterschiedliche Formen zusammen, malt aus, spielt mit Mustern. Zusätzliches Material – wie sie es nennt – holt sie sich aus dem Internet, will sagen, Logos, Symbole, populäre Produktabbildungen. Sie legt Bildebene, über Bildebene, und herauskommen vielschichtige Abbildungen, die jede Menge erzählen. Tomoko Nagao will die Gegenwart abbilden, unsere Zeit, unser Verhalten, sagt sie, aber nicht urteilen, das überlässt sie den Betrachter*innen. In ihren Bildern verstecken sich Botschaften, gesellschaftskritisch, oft ironisch. Sie spiegeln Konsumverhalten, Massenproduktion und Überfluss.
Dabei spricht die Künstlerin eine einfache Sprache. Sie verwendet zeitgenössische Motive, Grafiken und Symbole. Leicht verständlich, frech, eingängig. Und arbeitet dabei mit einer Symbolik, die sie aus ihrer Kindheit und Jugend in Japan kennt. Eines ihrer großen Vorbilder ist der japanische Künstler Takashi Murakami. Er begründete die Kunstbewegung Superflat, die mit einfachen Motiven arbeitet, sich auf Manga beruft und kaum Tiefe in den Bildern hat. Superflat eben.
Tomoko Nagao studierte in London Kunst. Als sie nach Europa kam, bemerkte sie zum ersten Mal bewusst, dass sie Japanerin und vollkommen anderes als ihre Kommilitone*innen sozialisiert worden ist. Sie sucht nach ihrer eigenen Identität und findet sie in dem ästhetischen Konzept von kawaii. Kawaii bedeutet auf Japanisch so viel wie liebenswert, niedlich oder kindlich. In Japan ist es zur Popkultur geworden und findet sich in vielen Bereichen der Kunst, aber auch des täglichen Lebens wieder. Nach dem Studium in London kehrte sie für einige Jahre in ihre Heimat zurück, verliebte sich in Japan in einen Italiener und ging mit ihm nach Italien. Seit 2007 lebt und arbeitet sie in Mailand. Hier in dem Land der großen Meister entdeckte sie die europäische Kunst, die sie seit ihrer Jugend bewunderte, neu. Sie studierte die Meisterwerke, verliert sich in der Renaissance, ihre Lieblingsepoche und beginnt, die Motive der europäischen Kunstgeschichte mit ihrem ganz eigenen Mangastil zu kombinieren.
So posiert die Mona Lisa von Leonardo da Vinci mit Hello Kitty. Oder die Las Meninas des spanischen Malers Diego Velázquez: Die jungen Mädchen in dem Meisterwerk aus dem 17. Jahrhundert trinken Coca-Cola, kaufen bei Zara ein und spielen Gameboy. Alles ist möglich. Tomoko spielt mit Neuen und Alten, mit Wahrnehmungen und Perspektiven. Ihre Werke sind auch ironische Anspielungen auf die ökonomischen Mechanismen unserer Zeit und die Macht, die Bilder und Werbung haben. Wir lassen uns als Betrachter*innen verführen, ohne es oft zu bemerken. Die Empfänglichkeit vom Außen geschieht vielleicht unterbewusst, ist aber deswegen nicht weniger manipulativ.
Tomoko Nagaos neuste Ausstellung, Iridescent Obsessions – Schillernde Obsessionen, ist bis zum 27.10.2018 in der Galerie Deodato Arte in Mailand zusehen sein.
© | Stephanie Drescher