Ostern ohne Ostern
Es ist schönstes Wetter. Draußen herrscht Frühling, der schon mit sommerlichen Temperaturen zum T-Shirt tragen einlädt, es blüht und fliegt und lockt. Dazu stehen Feiertage an, die unter normalen Umständen Quality Time mit der Familie und FreundInnen versprechen würden. Doch in diesem Jahr sind die Umstände nicht normal. Alles ist anders – Ostern findet ohne Ostern statt.
Ich fühle mich zwischen allem. Zwischen der Freude, endlich einmal kontinuierlich an einem Buch lesen zu können, ohne das treibende Gewissen noch tausend andere Dinge tun zu müssen und der Traurigkeit meine Familie zu Ostern nicht sehen zu können. Zwischen dem Glücksgefühl, über die allgemeine wohltuende Ruhe, das eifrige Vogelgezwitscher ohne störende Autogeräusche und die Erkenntnis, dass dies ein Ausnahmezustand ist. Zwischen dem Bedürfnis, beständig über die neusten Corona-Meldungen informiert sein zu wollen und der Wut, dass andere wichtige Krisenschauplätze – Ungarn, Griechenland, Syrien – kaum noch in den Medien stattfinden. Zwischen Vertrauen zu haben, dass alles gut gehen wird, wir das überstehen, gestärkt und um eine Erfahrung reifer aus der Katastrophe hervorgehen werden, mit Verlusten, ja, bestimmt, aber eben gestärkt und der Angst, dass die Welt in Trümmern liegen wird, unser Wertesystem und demokratische Errungenschaften nicht mehr die Grundlagen bilden werden für unser Zusammenleben.
Zwei Welten der Pandemie
Vieles fühlt sich gerade dazwischen an, oder besser zweigeteilt oder zum Verzweifeln nicht aushaltbar. Vergangene Woche meldet die Bundesregierung, dass sie 50 minderjährige Kinder aus den griechischen Flüchtlingslagern, in denen katastrophale Hygienezustände herrschen und in denen es jetzt – wie zu erwarten – die ersten Coronafälle gibt, aufnehmen wird. Laut dem Kinderhilfswerk UNICEF bräuchten rund 1400 schutzbedürftige, kranke Kinder, die unter schlimmsten Bedingungen in den Lagern hausen, dringend Hilfe. 50 sind 1350 zu wenig. 50 klingt so willkürlich, so glatt, wie ein runder Geburtstag, wie blanker Hohn. Dazwischen. Über mir toben die zwei Kinder der unfreundlichen Nachbarn. Unbändig, ohne Rücksicht. Kinder, die keine Not haben, die verwöhnt sind. Kinder unserer Überflussgesellschaft, die der Kapitalismus ausspuckt. Das Virus kennt zwar keine Grenzen, aber es trifft trotzdem nicht jede und jeden gleich. Die Unterschiede bleiben, die hebelt auch ein Virus nicht aus, im Gegenteil, sie werden bedrohlich deutlich. Es fühlt sich so „dubbel” an, wie meine Schwester, die in den Niederlanden lebt, sagen würde, was so viel heißt, wie alles hat seine zwei Seiten und man hängt irgendwie dazwischen.
Lästige Gewohnheiten
Im Park beobachte ich drei junge Männer, die sich zur Begrüßung die Hände schütteln und sich freundschaftlich umarmen, als sei die Welt die alte. Gehts noch! Denke ich. Haben die irgendetwas nicht mitgekriegt? Oder sind die alle schon krank gewesen und inzwischen immun? Und eigentlich geht es mich ja auch gar nichts an, sollen die doch machen, was sie wollen. Ist doch ihre Sache, würde ich eigentlich denken, aber jetzt wird die innere Klugscheißerin in mir wach, weil es eben nicht nur ihre Sache ist, sondern auch meine und die all der anderen, die im Park unterwegs sind.
Ich habe ein bisschen das Gefühl, als verließe mich in all dem Wirrwarr von neuen Verhaltensregeln, von Maßnahmen und Auflagen langsam mein Instinkt. Ich habe bis jetzt nicht gelernt, wie es sich mit einer Pandemie „ganz normal” leben lässt. Seit vier Wochen nähere ich mich langsam an, von Verinnerlichung bin ich allerdings weit entfernt. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass es circa 66 Tage dauert, bis man eine über Jahre etablierte Gewohnheit verändert, also mehr als 2 Monate. Gilt diese Regel auch in einer Krisensituation? Das Hände schütteln konnte ich ziemlich schnell ablegen, das war mir sowieso nie so richtig geheuer, aber eine innige Umarmung unter FreundInnen, die selbstverständlichen Berührungen, während einer hitzigen Diskussion, das Finger-in-den-Mund-nehmen, beim Nachdenken, das gedankenlose Augenreiben. Ich schaue Filme, in denen all das passiert und mehr, in denen Menschen sich in Bars verabreden, kennenlernen, fremde Menschen miteinander Sex haben. Filme, in denen wild und eng umschlungen getanzt wird, Menschen nah in U-Bahnen beisammenstehen, alte Menschen ausgelassen mit ihren Enkeln spielen und ertappe mich dabei zu denken: Das gibt es nicht mehr, Geschichte, Vergangenheit. Wie lange wird diese Gegenwart dauern und wie wird die Zukunft aussehen? Bin ich pessimistisch oder eher nüchtern den Tatsachen ins Auge sehend?
Ostern ohne Ostern
Zu Ostern bin ich – anders als eigentlich geplant – zu zweit. Das ist schön, ja. Aber da gibt es auch das Bedauern. Kein üppiges Ostermahl in Gesellschaft von FreudInnen, kein Osterbesuch bei der Familie, keine spontane Verabredung in einer Bar, zum Museumsbesuch, Kaffee und Kuchen im Lieblingscafé. Dazwischen. Auf der einen Seite, die viele geschenkte Zeit und auf der anderen Seite die große Sehnsucht nach all den Aktivitäten, in die sie investiert werden möchte, die aber momentan nicht möglich sind.
© | Stephanie Drescher