Alles hängt mit allem zusammen
Alles hängt mit allem zusammen – das ist wohl die eindeutigste Erkenntnis, die sich momentan aus der Pandemie ziehen lässt. Fällt ein Rädchen – und sei es noch so ein kleines – aus, beginnt das gesamte System ins Stocken zu geraten. Erst langsam, nur für wenige spürbar. Aber kommen weitere Rädchen dazu, und weitere und weitere, werden aus Rädchen, Räder, dann gerät das stabilste System in einen Sturm. Noch sind wir am Anfang, sagen die Experten, es herrscht die bekannte Ruhe vor dem großen Aufbrausen, doch ich bin jetzt schon seekrank.
Seit gut drei Wochen gewöhne ich mich daran, dass das Leben einen anderen Rhythmus hat, einen langsameren, stilleren. Dass der Tag längst nicht mehr so vollgepackt ist, wie vor der Pandemie, oder besser: mit anderen Dingen. Dass der Tag zuweilen ganz leer vor mir liegt und wenn es doch Aufgaben gibt, diese durch größere Pausen aufeinanderfolgen.
Die veränderte Gegenwart
Wie gehe ich mit einer aufgezwungenen Gegenwart um, die mich in allen Bereichen meines privaten und beruflichen Lebens in die Schranken weist? Die jede Handlung infrage stellt, weil die Unsicherheit mitschwingt, dass sie für andere und mich selbst, Gefahr bedeuten könnte? Wie schaffe ich es, eine gute Tochter, Schwester, Tante, und Freundin zu sein, wenn die sicherste Methode, die ist, mich zuhause zu verbarrikadieren?
Klar, wir können alle immer und zu jeder Zeit miteinander telefonieren, uns schreiben, Nachrichten schicken, aber das ersetzt nicht den unmittelbaren Kontakt und die Nähe, die daraus entsteht. Und die viel wichtigere Frage ist: Wie lange halten wir das alle durch, ohne einen erheblichen Koller und daraus resultierenden Knall zu bekommen? Über die Zeit nach Corona kann ich noch nicht nachdenken. Vor allem, weil sie für mich im Moment unüberschaubar weit weg erscheint. Unvorstellbar mögliche Verluste in die Realität hinein zudenken. Diese Gedanken und damit verbundenen Emotionen lasse ich nicht zu und lenke mich stattdessen ab.
Ich bin mit meiner erst kürzlich verwitweten Tante verabredet. Ich bringe ihr Einkäufe und einen Büchernachschub gegen das Alleinsein vorbei. Und weil die Sonne scheint und wir ein bisschen Zeit miteinander verbringen wollen, beschließen wir, das frische Grab meines Onkels zu besuchen. Ich trage meine Maske und halte den vorgeschriebenen Abstand ein. Ich habe diese Vorgaben schon ein bisschen verinnerlicht, sie fühlen sich aber trotzdem komisch an. Viel lieber würde ich meine Tante in den Arm nehmen, sie ein bisschen trösten, aber wir können nur mit Worten Gefühle austauschen, mehr geht nicht.
Wie verhalte ich mich richtig?
Auf dem Weg zum Friedhof müssen wir eine viel befahrene Kreuzung passieren. Wir warten an der Ampel auf Grün, als eine ältere Dame an der Ampel neben uns, über die Straße läuft, erschöpft die Ampel umarmt und dazu noch ziemlich verwirrt aussieht. Kurz zögere ich, sie anzusprechen – reicht meine Stoffmaske als Schutz aus? – aber dann gehe ich zu ihr und frage sie, ob es ihr nicht gut gehe? Sie antwortet, dass ihr ein wenig schwindelig sei, sie aber nur noch über die nächste Straße gehen müsse. Ich hake nach, wo sie genau zuhause sei? „In Britz”, antwortet sie.
Wir stehen an einer Kreuzung in Mariendorf. Zu Fuß wäre die Frau ganz sicher mehr als eine Stunde unterwegs gewesen, käme sie aus Britz. Und für einen gemütlichen Nachmittagsspaziergang ist sie viel zu luftig angezogen, auch wenn die Sonne scheint. Noch dazu wirkt sie sehr verloren. Ich rufe also die Polizei, die mich bittet, so lange bei der Dame zu bleiben, bis die KollegInnen eintreffen. Wir suchen uns eine windgeschützte Stelle, die Dame setzt sich auf eine Bank und erzählt uns, dass sie aus Frankfurt/Oder sei und mit ihren Eltern dort zusammenwohne. Spätestens jetzt bin ich froh, dass ich die Frau angesprochen habe.
An das Abstandhalten, wenn es durch Markierungen vorgeschrieben ist, halten sich die meisten Menschen inzwischen konsequent, schwierig wird es in Situationen, die sich nicht planen lassen. In denen niemand und nichts an die Regeln erinnert.
Die ältere Dame hört nicht gut, der Verkehr an der Kreuzung ist laut, ich muss nah an sie herantreten, um mit ihr zu sprechen. Und auch die PolizistInnen, die sich später um sie kümmern, ziehen zwar Handschuhe an, tragen aber weder Schutzmasken (die sind für die Berliner Polizei bestellt, aber auf dem Weg nach Berlin auf mysteriöse Weise verschwunden), noch halten sie den vorgeschriebenen Abstand – wie auch? Sie müssen die Dame befragen, ohne ihr Angst zu machen, sie beruhigen, herausfinden, wo sie hingehört, und das geht ziemlich schwer aus zwei Metern Entfernung. Es ist eine Situation, in der alle Vorsichtsmaßnahmen nicht vergessen sind, aber in den Hintergrund treten, weil alles andere unmenschlich wäre.
Distanz versus Nähe
Wie entwickeln wir in so kurzer Zeit eine gesunde Routine für genau diese Situationen? Diese Frage lässt sich für mich nicht so schnell klären. Und fast glaube ich, diese Routine kann es gar nicht geben, denn sie würde jede Form der Annäherung und Nächstenliebe unmöglich machen. Ich möchte mir diese Distanz auch gar nicht zu sehr angewöhnen, denn ich möchte die bleiben, die ich bin. Ja, jetzt ist sie geboten, überlebenswichtig, aber eben auch nicht in jeder Lebenslage. Wir müssen lernen abzuwägen, wehrhaft bleiben und Freiräume in der Beschränkung etablieren.
Schnell geklärt dagegen ist, dass die alte Dame, 95-jährig, aus einer SeniorInneneinrichtung in der Nachbarschaft ausgebüxt ist, nicht zum ersten Mal, wie die BeamtInnen herausfinden. Als zwei der PolizistInnen sie einhaken wollen, um sie zum Auto zu begleiten, widerspricht die Frau keck und sagt: „Einer reicht, es soll schließlich nicht so aussehen, als werde ich abgeführt.” Ein zufriedenes Lächeln huscht über ihr Gesicht, so als habe sich der Ausflug für sie gelohnt und bereitwillig steigt sie in den Polizeiwagen.
Ich lächle auch unter meiner Maske. Für einen ganz winzigen Moment scheint die Welt noch in Ordnung zu sein.
© | Stephanie Drescher