Corona Diary – 26. April 2020

Abgesagt und auf unbekannte Zeit verschoben

Meine Nichte hatte vor drei Tagen Geburtstag. Sie lebt gemeinsam mit meiner Schwester in Niedersachsen und eigentlich war die Reise dorthin seit Monaten fest geplant. Denn meine Nichte wäre dieses Wochenende außerdem konfirmiert worden. Die Feier war bestellt, die Gäste geladen. Aber wegen Corona sind natürlich auch alle Konfirmationen abgesagt und auf unbekannte Zeit verschoben. Statt zusammen zu feiern, telefoniere ich mit einer ziemlich gelassenen 14-Jährigen, die sehr nüchtern auf die ganze Situation schaut. Auch wenn sie keine Langeweile habe, die Schule könne trotzdem langsam wieder anfangen, erzählt sie mir. Gehen die jungen Leute entspannter mit der ganzen Situation um, oder ist es einfach eine Charaktersache?

Ich habe Sehnsucht

Fast täglich wird mir bewusst, was ich alles vermisse. Es fängt bei den ganz offensichtlichen Dingen an. Zum Beispiel hätten The Algiers in diesem Monat in Berlin gespielt – darauf hatte ich mich schon gefreut und ein kraftvolles Konzert wäre momentan genau das Richtige – ein neuer Termin ist für Oktober angekündigt. Ist er wirklich realistisch? Ich will es glauben. Museum, Theater, Kino. Verabredungen mit FreundInnen zum Essen oder einfach ganz spontan auf einen Kaffee im Lieblingscafé um die Ecke. Die Sehnsüchte wiederholen sich in regelmäßigen Abständen, sie kommen mit 200 km/h angeschossen, um im selben Moment von der Realität ausgebremst zu werden. Der Bremsschock wird zu einem Wachrütteln, das ich nicht gut aushalten kann. Gefangen in diesem Ohnmachtszustand, bleibt nur das Ausleben in der Bewegung. Rennen, bis der Kopf leer ist, zum Glück geht das in Berlin. Aber welche der Sehnsüchte lassen sich nach dieser Krise noch wie gewohnt erfüllen? Was können wir über diese Zeit hinaus bewahren, was unser gesellschaftliches Miteinander prägt und ausmacht? Was wird für immer verloren sein? Aber auch all die kleinen Dinge, die Selbstverständlichkeiten, die sich ändern oder langsam mehr und mehr ins Gewicht fallen.

Fotografieren gegen den Koller

Momentan schnappe ich mir regelmäßig meine Kamera und laufe durch Berlin. Hätte der Kiosk an der Ecke, der eine Art Institution in meinem Kiez war, Anlaufpunkt für die Prostituierten, die auf dem Straßenstrich auf der Potsdamer- und Bülowstraße arbeiten, hätte er auch aufgegeben ohne Corona? Oder die Fahrschule in der Nachbarschaft? Erst hing ein Schild im Schaufenster, dass sie vorübergehend schließt, inzwischen steht das Ladenlokal leer und wird zur Miete angeboten. Während meiner Spaziergänge durch die Stadt überlege ich, wo ich mal schnell irgendwo auf die Toilette gehen könnte? Nirgendwo, es ist alles geschlossen.

Was bleibt?

Im Radio höre ich, dass 70.000 aller Gastronomiebetriebe in Deutschland ohne staatliche Hilfen von der Insolvenz betroffen sind. Das ist jeder Dritte. Welches meiner Lieblingsrestaurants wird überleben? Es gibt kreative, umtriebige Gastwirte, die sich ein Take-away-Konzept überlegen – das ist toll – und treibt gleich neue Blüten. Da die Leute sich mit ihrem Essen nicht in der Nähe der Restaurants aufhalten dürfen, suchen sie sich die merkwürdigsten Orte, um zu essen. Hochfrequentiert ist seit einigen Wochen ein ziemlich unscheinbarer Verteilerkasten, der vor unserem Haus steht. Ständig beobachte ich dort Menschen, die ihn als Unterlage für ihre Assiette nutzen, oder für mitgebrachte Bierflaschen, aber auch Handys werden dort gerne platziert, um Musik zu hören. Eigentlich ist dieser graue Kasten kein Platz zum Verweilen und ich verstehe überhaupt nicht, wie man dort genussvoll essen oder trinken kann, aber er entwickelt ganz offenbar eine hohe Anziehungskraft, bei ganz unterschiedlichen Menschen.

Es gibt Tage, an denen kann ich die ganzen Nachrichten, die neusten Entwicklungen und Todesraten nicht mehr hören. Ich will einfach, dass das aufhört. Stop Corona! Ja, ich weiß, so einfach ist das nicht. Ja, ich weiß, wir werden noch sehr, sehr lange mit Corona beschäftigt sein, selbst wenn es den erlösenden Impfstoff endlich geben wird, selbst dann. Dann beginnt die Post-Corona-Phase. Wirtschaftlich, gesellschaftlich, politisch.

Wie lange noch?

Und gerade habe ich den Eindruck, die Stimmung kippt. Nach dem anfänglichen Gefühl der Solidarität werden immer mehr kritische Stimmen laut. Wie soll es weitergehen? Wie lange halten wir es in der Unsicherheit noch aus? Ohne unsere Arbeit, ohne die lebenswichtigen Berührungen, die nährenden sozialen Kontakte, ohne Kultur, ohne die zufälligen Begegnungen aus denen Liebesbeziehungen werden, ohne Leichtigkeit? Jede Wirtschaftsbranche meldet inzwischen verheerende Auswirkungen auf ihr Geschäft. Alle haben Ansprüche, alle wollen ihre Existenz retten, Hilfen, Kredite, Unterstützung irgendeiner Art. Wie lange hält das Netz noch stand, bis die Last zu schwer wird und es reißt?

Angela Merkel sagte diese Woche im Parlament, dass die jetzige Situation eine „demokratische Zumutung” sei. Aber sie ist nicht nur eine demokratische Zumutung, weil sie uns an vielen Stellen unserer Grundrechte beraubt. Sie ist eine Zumutung für alle Lebensbereiche.

Foto: © | Uwe Schwarze

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